Der Bundesfinanzhof (BFH) hat mit Urteil vom 20.02.2025 (Az. VI R 18/22) entschieden, dass die gesetzliche Zugangsvermutung gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO auch dann gilt, wenn der vom Finanzamt beauftragte Postdienstleister innerhalb der Dreitagesfrist nicht an allen Werktagen Post zustellt.
Gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt (z.B. Einkommensteuerbescheid), der durch die Post übermittelt wird, am dritten Tag nach Aufgabe zur Post als bekanntgegeben. Dies gilt unabhängig davon, ob der Versand durch die Deutsche Post AG oder einen privaten Postdienstleister erfolgt. Die Regelung enthält eine gesetzliche Fiktion, die nur dann widerlegt werden kann, wenn der Zugang nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt nachgewiesen wird.
Bestreitet der Empfänger lediglich den Zugang innerhalb der Dreitagesfrist, so sind substantiierte Tatsachen vorzutragen, die Zweifel an einem typischen Geschehensablauf wecken. Eine bloße Behauptung eines verspäteten Zugangs genügt nicht. Erforderlich ist vielmehr ein schlüssiges, nachvollziehbares Vorbringen, das eine ernsthafte Möglichkeit eines atypischen Ablaufs eröffnet. Maßgeblich ist dabei stets, ob aus Sicht des Gerichts konkrete Anhaltspunkte gegen die gesetzliche Zugangsvermutung sprechen
Die Klägerin erzielte im Streitjahr 2017 Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Ihre Einkommensteuererklärung fertigte sie ohne Hinzuziehung eines steuerlichen Beraters an. Am Freitag, den 15. Juni 2018, erließ das zuständige Finanzamt einen Einkommensteuerbescheid und übergab diesen am selben Tag einem privaten Postdienstleister (X AG), der im Wohnviertel der Klägerin lediglich an maximal fünf Werktagen pro Woche Post zustellt.
Während der Zeit vom 2. Mai bis einschließlich 18. Juni 2018 hielt sich die Klägerin berufsbedingt in B auf. In dieser Abwesenheitszeit hatte sie ihre Mutter und eine Freundin mit der Leerung ihres Briefkastens beauftragt. Am Morgen des 19. Juni 2018 kehrte sie zurück und fand den Einkommensteuerbescheid nach eigener Angabe im Briefkasten. Noch am selben Tag leitete sie den Bescheid per Telefax an ihre Prozessbevollmächtigte weiter.
Am 19. Juli 2018, also exakt einen Monat später, wurde gegen den Bescheid Einspruch eingelegt. Das Finanzamt verwarf den Einspruch als unzulässig mit der Begründung, der Bescheid gelte gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO als am Montag, den 18. Juni 2018, bekanntgegeben. Die einmonatige Einspruchsfrist sei daher bereits am 18. Juli 2018 abgelaufen.
Das Finanzgericht Berlin-Brandenburg folgte dieser Auffassung nicht. Es stellte fest, dass der private Postdienstleister an einem Werktag innerhalb der Dreitagesfrist keine Zustellungen vornehme. Daher greife die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht. Mangels anderweitigen Nachweises eines früheren Zugangs sei der Verwaltungsakt erst am 19. Juni 2018 bekanntgegeben worden. Die Klage der Steuerpflichtigen hatte daher in der ersten Instanz Erfolg.
Der BFH hob das Urteil des Finanzgerichts auf und wies die Klage ab. Er stellte klar, dass die Voraussetzungen für die Anwendung der Zugangsvermutung nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO im Streitfall erfüllt seien. Der Einkommensteuerbescheid wurde unstreitig am 15. Juni 2018 zur Post gegeben, sodass er bei regulärem Verlauf der Postbeförderung am dritten Tag nach der Aufgabe, dem 18. Juni 2018, als bekanntgegeben gilt.
Entscheidend ist nach Auffassung des BFH, dass durch den Umstand, dass der beauftragte Postdienstleister an einem Werktag innerhalb der Dreitagesfrist regelmäßig keine Post zustellt, die gesetzliche Vermutung nicht entkräftet wird. Eine solche tatsächliche Einschränkung führe nicht zur Erschütterung des typischen Ablaufs, der dem Gesetz zugrunde liegt. Vielmehr müsse der Steuerpflichtige Tatsachen vortragen, die konkret geeignet sind, ernsthafte Zweifel an einem Zugang innerhalb der Dreitagesfrist zu begründen.
Die bloße Angabe, der Bescheid sei am Morgen des 19. Juni 2018 im Briefkasten aufgefunden worden, reiche dafür nicht aus. Ein derartiger Vortrag sei weder geeignet noch ausreichend, die gesetzliche Fiktion zu entkräften. Es komme nicht darauf an, ob an zwei aufeinanderfolgenden Tagen keine Zustellung erfolge oder ein Sonntag dazwischenliege. Entscheidend sei allein, ob substantiiert ein atypischer Geschehensablauf dargelegt werde, was vorliegend nicht der Fall gewesen sei. Vorliegend hätte beispielsweise vorgetragen werden müssen, dass bei Leerung des Briefkastens am 18. Juni 2018 durch die Freundin oder Mutter der Einkommensteuerbescheid nicht vorgefunden wurde. Ein solcher Vortrag erfolgte allerdings nicht.
An dieser Beurteilung ändere sich auch nichts, wenn planmäßig an zwei aufeinanderfolgenden Tagen keine Postzustellung erfolgt, weil der zustellfreie Tag an einen Sonntag grenzt. Die Zustellung innerhalb der Dreitagesfrist werde hierdurch zwar etwas weniger wahrscheinlich, sei aber gleichwohl möglich. Es bedürfe daher eines ausreichend substantiierten – das heißt detaillierten und schlüssigen - Vortrags, um die Zugangsvermutung zu erschüttern. Ein solcher sei vorliegend nicht erkennbar.
Damit gilt der Bescheid als am 18. Juni 2018 bekanntgegeben. Die einmonatige Einspruchsfrist endete folglich am 18. Juli 2018. Der erst am Folgetag eingelegte Einspruch war verfristet und daher unzulässig.
Mit seiner Entscheidung stellt der BFH unmissverständlich klar, dass die gesetzliche Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht durch bloße Hinweise auf eingeschränkte Zustellgewohnheiten privater Postdienstleister erschüttert werden kann. Für die Entkräftung der Fiktion bedarf es eines substanziierten Tatsachenvortrags, der einen atypischen Geschehensablauf konkret und nachvollziehbar darlegt. Die Entscheidung stärkt damit die Rechtssicherheit im Bereich der Bekanntgabefiktion und entlastet die Finanzverwaltung von der Pflicht, in jedem Einzelfall konkrete Zustellnachweise zu erbringen.
Für die Praxis bedeutet dies, dass Steuerpflichtige bei der Geltendmachung verspäteten Zugangs ein erhöhtes Maß an Darlegungslast trifft. Der Nachweis muss nicht nur glaubhaft, sondern in tatsächlicher Hinsicht schlüssig und nachvollziehbar sein. Die bloße Berufung auf individuelle Umstände, wie eine Urlaubsabwesenheit oder eingeschränkte Zustellung, reicht nicht aus.
Diese Grundsätze gelten gleichermaßen für die Bekanntgabe von steuerlichen Verwaltungsakten gegenüber Gemeinnützigen. Prüfen Sie den Fristbeginn genau, um im Zweifel Rechtsschutz gewährleisten zu können. Bei Fragen kommen Sie gern auf die Experten von SCHOMERUS zu.
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