Eine Grundsatzentscheidung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) aus September 2021 hat Arbeitgebern den Weg dafür geebnet, dass es einfacher geworden ist, den hohen Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU-Bescheinigung) eines zweifelhaft erkrankten Arbeitnehmers zu erschüttern. Einige Monate später herrscht nun Klarheit. Erforderlich für ein arbeitgeberseitiges Vorgehen sind nunmehr objektiv greifbare Umstände, die signifikante Zweifel an der tatsächlichen Erkrankung des Arbeitnehmers begründen. Zudem haben sich Fallgruppen herausgebildet, in denen ein restriktiveres Vorgehen seitens eines Arbeitgebers sinnvoll sein mag.
Im Grundsatz gilt zunächst, dass eine AU-Bescheinigung einen hohen Beweiswert für eine tatsächliche Erkrankung seitens eines Arbeitnehmers hat. Es ist dann Sache des Arbeitgebers, diesen hohen Beweiswert zu erschüttern. Kann der Arbeitgeber insoweit objektiv greifbare Umstände vortragen, die erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Erkrankung des Arbeitnehmers begründen, so stellt das BAG nunmehr geringere Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast.
Ist eine Aufklärung des Sachverhalts für den Arbeitgeber in derartigen Konstellationen nicht detaillierter möglich, soll das zudem nicht zu Lasten des Arbeitgebers gehen. Darüber hinaus sind aktive Ermittlungen möglich, wenn sie nicht unverhältnismäßig sind. Rein objektiv mehrdeutige Sachverhalte – wie z. B. die Mitnahme aller persönlichen Gegenstände nach Ausspruch einer Kündigung – reichen hierfür allerdings noch nicht aus.
In § 275 Abs. 1a SGB V werden einige Regelbeispiele für begründete Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit (AU) aufgeführt. Arbeitgeber sind hierauf jedoch nicht beschränkt. Vor diesem Hintergrund kann der Beweiswert einer AU-Bescheinigung nach unserem Dafürhalten vor allem in folgenden Fallkonstellationen erschüttert sein:
Ausstellen einer AU-Bescheinigung nach Ferndiagnose (= ohne „vor Ort“-Besuch beim Arzt);
Ankündigung der AU durch den Arbeitnehmer nach einem Streit mit dem Arbeitgeber;
AU nach arbeitgeberseitig abgelehntem Urlaubsantrag;
wiederholte AU eines Arbeitnehmers vor/an/nach Brückentagen, Feiertagen oder Urlaubstagen;
genesungswidriges Verhalten während der AU;
äußerlich erkennbares Krankheitsbild lässt auf offensichtliche Arbeitsfähigkeit schließen;
Erbringung einer Tätigkeit für einen anderen Arbeitgeber während der AU;
rückdatierte AU-Bescheinigung;
zeitliches Zusammentreffen von Beginn und Ende der Kündigungsfrist mit der AU (= Erkrankung des Arbeitnehmers ab dem Zeitpunkt der Kündigung bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses).
Der Arbeitgeber hat bei Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit eines Arbeitnehmers einen gesetzlichen Anspruch aus § 275 Abs. 1a Satz 3 SGB V gegen die gesetzlichen Krankenkassen auf Einholung einer gutachterlichen Stellungahme des Medizinischen Dienstes zur Überprüfung der Arbeitsunfähigkeit. Die Prüfung durch die Krankenkasse hat unverzüglich zu erfolgen. Stimmt das Ergebnis des Gutachtens mit der Bescheinigung des Kassenarztes nicht überein und steht dem Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung zu, so sind der Arbeitgeber und der versicherte Arbeitnehmer über das Ergebnis zu unterrichten.
Ist ein Arbeitnehmer privatversichert, bleibt dem Arbeitgeber zur Ermittlung der Umstände nur die private Nachforschung, z.B. durch die Beauftragung eines Privatdetektivs oder eigene Kontrollmaßnahmen. Private Ermittlungen sind erfahrungsgemäß häufig leider wenig erfolgsversprechend oder unverhältnismäßig. Immerhin kommt dem Arbeitgeber die geringere Darlegungs- und Beweislast aus dem neuen BAG-Urteil an dieser Stelle aber zugute.
Abschließend darf der Arbeitgeber einen Arbeitnehmer bei einer zweifelhaften AU-Bescheinigung auch nicht zum Betriebsarzt schicken. Insoweit bestimmt § 3 Abs. 3 ASiG ausdrücklich, dass es nicht zu den Aufgaben eines Betriebsarztes gehört, Krankmeldungen der Arbeitnehmer auf ihre Berechtigung zu überprüfen. Denkbar ist aber, dass der Arbeitgeber einen sog. Krankenkontrollbesuch bei dem Arbeitnehmer durchführt. Zu beachten ist insoweit, dass der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber weder die Tür öffnen noch Zugang zu seiner Wohnung gewähren muss.
Bestätigen sich die Zweifel an der AU-Bescheinigung oder bestehen zumindest erhebliche Verdachtsmomente für ein missbräuchliches Verwenden von AU-Bescheinigungen, so kann der Arbeitgeber die Fortzahlung des Arbeitsentgelts verweigern, solange der Arbeitnehmer seiner ihm obliegenden Arbeitspflicht nicht nachkommt und diese zu vertreten hat. Erfüllt der Arbeitnehmer die ihm obliegenden Pflichten nachträglich, ist das Entgelt aber rückwirkend zu zahlen. Eine arbeitgeberseitig geplante Einstellung der Entgeltfortzahlung sollte – gestützt auf eine der obigen Fallgruppen – gleichwohl nicht ohne jegliche Ankündigung erfolgen, da der Arbeitgeber selbst bei missbräuchlichem Verhalten des Arbeitnehmers diesem gegenüber immer noch eine Fürsorgepflicht hat. Demgemäß sollte ein Arbeitgeber den Arbeitnehmer vor der Einstellung der Entgeltfortzahlung in Textform darauf hinweisen, was die Ursache hierfür ist, um ihm die Chance zu geben, diesen Missstand zu beseitigen. Sprechen Sie uns gern im Hinblick auf solche Musterschreiben an.
Daneben kann der Arbeitgeber den Arbeitnehmer abmahnen und je nachdem, wie schwer die konkreten Umstände das Vertrauensverhältnis zerrüttet haben, das Arbeitsverhältnis auch kündigen.
Für Arbeitgeber wurde durch das BAG der Weg erleichtert, die Beweiskraft von AU-Bescheinigungen bei erheblichen Zweifeln zu erschüttern. Mit Hilfe einer Abmahnung kann der Arbeitgeber zudem ein klares Zeichen gegen missbräuchliches Verhalten setzen. Darüber hinaus kann der Arbeitgeber auch die Entgeltfortzahlung verweigern; selbst bei missbräuchlichem Verhalten des Arbeitnehmers erfordert die Fürsorgepflicht gegenüber dem Arbeitnehmer hier jedoch eine vorherige Ankündigung und Begründung in Textform. Die Voraussetzungen an die Kündigung des Arbeitsverhältnisses bleiben als letztes Mittel unverändert hoch.
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