Das Finanzgericht Niedersachsen (FG) hat mit Urteil vom 14.11.2024 (Az. 5 K 17/24) entschieden, dass bei Lieferungen eines in § 4 Nr. 19 Buchst. b UStG genannten Unternehmers – hier einer anerkannten Blindenwerkstätte – ins EU-Ausland die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen nach § 4 Nr. 1 Buchst. b i. V. m. § 6a UStG gegenüber der speziellen Steuerbefreiung für Blindenwerkstätten Vorrang hat. Das Gericht stellte klar, dass in diesen Fällen der Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a UStG zulässig bleibt und widersprach damit der bisherigen Verwaltungsauffassung.
Nach § 4 Nr. 1 Buchst. b UStG sind innergemeinschaftliche Lieferungen unter bestimmten Voraussetzungen von der Umsatzsteuer befreit. Diese Voraussetzungen ergeben sich im Einzelnen aus § 6a UStG, wonach insbesondere eine Lieferung an einen im übrigen Gemeinschaftsgebiet ansässigen Unternehmer unter Verwendung einer gültigen Umsatzsteuer-Identifikationsnummer sowie die tatsächliche Verbringung des Gegenstandes in das andere EU-Land erforderlich sind. Diese Steuerbefreiung berechtigt grundsätzlich zum Vorsteuerabzug gemäß § 15 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a UStG, da sie als steuerfreier Umsatz im Sinne des Gemeinschaftsrechts anerkannt ist.
Demgegenüber sieht § 4 Nr. 19 Buchst. b UStG eine Steuerbefreiung für Lieferungen durch anerkannte Blindenwerkstätten vor. Diese nationale Vorschrift beruht auf Anhang X Teil B Nr. 5 der Richtlinie 2006/112/EG (MwStSystRL) und stellt eine fakultative Steuerbefreiung dar, die von den Mitgliedstaaten gewährt werden kann. Sie gilt unabhängig vom Ort der Lieferung, schließt jedoch nach § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 UStG in Verbindung mit § 4 Nr. 19 UStG den Vorsteuerabzug aus. Dies gilt nicht, sofern der Unternehmer auf die Befreiung gemäß § 9 Abs. 1 UStG verzichtet hat.
Der Kläger ist Inhaber einer anerkannten Blindenwerkstätte im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 des Blindenwarenvertriebsgesetzes in der bis zum 13. September 2007 geltenden Fassung. Er betreibt eine Weberei und Näherei zur Herstellung und zum Vertrieb von Blindenwaren und Zusatzwaren. Das Unternehmen fungiert gleichzeitig als Konzernmutter mehrerer GmbHs und gGmbHs im In- und Ausland, darunter auch der österreichischen X-GmbH, an der der Kläger vollständig beteiligt ist. Diese Gesellschaft ist keine gemeinnützige Körperschaft.
In den Streitjahren 2014 bis 2017 lieferte der Kläger Blindenwaren unter Angabe seiner Umsatzsteuer-Identifikationsnummer an die X-GmbH in Österreich. Die Lieferungen wurden von ihm in den Umsatzsteuererklärungen als umsatzsteuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen deklariert. Die auf die Eingangsleistungen entfallenden Vorsteuerbeträge teilte er auf Grundlage einer Schätzung im Verhältnis der steuerfreien Umsätze am Gesamtumsatz auf. Dabei behandelte er die innergemeinschaftlichen Lieferungen als Umsätze, die zum Vorsteuerabzug berechtigen.
Das zuständige Finanzamt führte im Jahr 2019 eine Außenprüfung durch und kam zu dem Ergebnis, dass auf die innergemeinschaftlichen Lieferungen die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 19 Buchst. b UStG Anwendung finde. Demzufolge sei der Vorsteuerabzug gemäß § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 UStG ausgeschlossen. Auf dieser Grundlage versagte das Finanzamt einen anteiligen Vorsteuerabzug in Höhe von insgesamt 47.299,23 € für die Jahre 2014 bis 2017 und erließ geänderte Umsatzsteuerbescheide.
Gegen diese Änderungsbescheide legte der Kläger Einspruch ein und machte geltend, dass die innergemeinschaftliche Lieferung gegenüber der nationalen Steuerbefreiung Vorrang habe. Er verwies unter anderem auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität sowie auf unionsrechtliche Regelungen zur Abgrenzung echter Zuschüsse und Preisbestandteile.
Das Finanzamt wies die Einsprüche mit Entscheidung vom 8. März 2022 zurück und stellte sich auf den Standpunkt, dass die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 19 Buchst. b UStG als speziellere Vorschrift vorrangig sei und deshalb ein Vorsteuerausschluss nach § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 UStG bestehe. Daraufhin erhob der Kläger Klage vor dem FG Niedersachsen.
Das FG Niedersachsen gab der Klage statt und stellte fest, dass die Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 2014 bis 2017 rechtswidrig seien. Der Kläger habe Anspruch auf den geltend gemachten anteiligen Vorsteuerabzug in Höhe von insgesamt 47.299,23 €, da die Voraussetzungen für eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung gemäß § 4 Nr. 1 Buchst. b i. V. m. § 6a UStG erfüllt seien. Diese Steuerbefreiung sei gegenüber der Steuerbefreiung des § 4 Nr. 19 Buchst. b UStG vorrangig anzuwenden, wenn beide tatbestandlich einschlägig seien.
Zur Begründung führte das Gericht aus, dass der Vorsteuerabzug nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a UStG ausdrücklich auch für innergemeinschaftliche Lieferungen gelte. Deren unionsrechtliche Grundlage sei Art. 169 Buchst. b der Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie (MwStSystRL), wonach ein Steuerpflichtiger zum Vorsteuerabzug auch dann berechtigt sei, wenn er Eingangsleistungen für steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen verwende.
Demgegenüber sei die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 19 Buchst. b UStG eine fakultative nationale Sonderregelung auf Grundlage des Anhangs X Teil B Nr. 5 MwStSystRL, die den Vorsteuerabzug ausschließe. Das Gericht lehnte die Auffassung des Finanzamts, wonach diese Befreiung der innergemeinschaftlichen Befreiung als lex specialis vorgehe, ausdrücklich ab. Ein solcher Vorrang sei nicht aus dem Gesetz abzuleiten und widerspreche dem Prinzip der steuerlichen Neutralität.
Das Gericht stellte ferner klar, dass der Kläger die innergemeinschaftlichen Lieferungen korrekt behandelt habe, da er diese in seinen Rechnungen ordnungsgemäß als steuerfrei ausgewiesen und die übrigen Voraussetzungen des § 6a UStG erfüllt habe. Es sei nicht maßgeblich, ob der Kläger für vergleichbare Umsätze im Inland auf die Steuerbefreiung des § 4 Nr. 19 UStG verzichtet habe oder nicht. Die umsatzsteuerrechtliche Würdigung habe sich ausschließlich am Charakter der tatsächlich ausgeführten Leistung zu orientieren. Die Möglichkeit zur Option nach § 9 Abs. 1 UStG sei ebenfalls unerheblich, da sie lediglich eine Wahlrechtserweiterung, nicht jedoch eine Verpflichtung zur Ausübung beinhalte.
Die Entscheidung des FG Niedersachsen hat über den entschiedenen Einzelfall hinaus grundsätzliche Bedeutung für die umsatzsteuerliche Behandlung von innergemeinschaftlichen Lieferungen durch Unternehmer, die auch unter eine spezielle Steuerbefreiungsvorschrift wie § 4 Nr. 19 Buchst. b UStG fallen. Sie stellt klar, dass bei gleichzeitiger Anwendbarkeit mehrerer Steuerbefreiungen der unionsrechtlich fundierten Befreiung nach § 4 Nr. 1 Buchst. b i. V. m. § 6a UStG der Vorrang gebührt, sofern sie zum Vorsteuerabzug berechtigt. Die restriktive Auslegung der Verwaltung, wonach die speziellere nationale Regelung stets Vorrang habe, wird ausdrücklich abgelehnt.
Für die Praxis bedeutet dies eine Stärkung des Vorsteuerabzugsrechts bei innergemeinschaftlichen Lieferungen auch durch steuerbegünstigte Einrichtungen, etwa anerkannte Blindenwerkstätten. Es empfiehlt sich, im Falle paralleler Anwendbarkeit unterschiedlicher Befreiungsvorschriften stets diejenige zur Anwendung zu bringen, die eine unionsrechtlich begründete Vorsteuerabzugsberechtigung eröffnet.
Falls Sie ähnliche Fragestellungen zur Umsatzsteuerbefreiung oder zum Vorsteuerabzug bei grenzüberschreitenden Leistungen oder steuerbegünstigten Einrichtungen haben, wenden Sie sich gerne an die Expertinnen und Experten von SCHOMERUS.
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